Osterglocken.

Skizze von Paul Bliß.
in: „Dresdner neueste Nachrichten” vom 20.03.1921


Es war Palmsonntag. Die Sonne schien hell und warm, und der Himmel leuchtete in seinem klarsten und duftigsten Blau. Sträucher und Bäume prangten im ersten jungen Grün, und in den Beeten blühten die jungen Frühlingsblumen, schüchtern und noch vereinzelt, denn bisher war es kalt und rauh gewesen, nun aber drang die Sonne mit siegender Kraft vor, und nun schmückte sich die alte Welt mit neuer junger Pracht.

Sinnend ging Frau Maria durch ihr Gärtchen — auch in ihr war es lange, lange Winter gewesen, auch auf ihr lag es so lange rauh und schwer wie Eis und Schnee —, nun aber hatte die milde warme Sonne auch ihre Seele wieder zu neuem Leben, zu neuer Hoffnung erweckt und mit still verhaltener Freude dachte sie an die Zukunft.

In dem Beet zu ihren Füßen blühten die ersten gelben Narzissen, die großköpfigen mit den langen Kelchen, die der Volksmund „Osterglocken” nennt.

Sinnend stand die jugendlich schlanke Frau, der man ihre 35 Jahre wirklich nicht ansah, und blickte auf die hellen gelben Blumen, die hier in ganzen Stauden beieinander standen — und tief versonnen dachte sie jetzt: Es waren „seine” Lieblingsblumen, und „er” hatte sie „Osterglocken” genannt!

Dann bückte sie sich, brach ein paar von den Narzissen ab und nahm sie mit sich.

Und ihre Gedanken führten sie zurück in jene Zeit, da sie noch mit ihm hier gewandelt war.

Aber dann begannen die Kirchenglocken zu läuten, und da ging sie hurtig ins Haus, um sich für den Kirchgang fertigzumachen, denn heute wurde ja ihr Bub, ihr einziger, konfirmiert.

Er stand auch bereits im ganzen Schmuck seiner Festtagskleider da, als sie ins Zimmer trat, und fast ungeduldig bat er: „Aber Mutti, es ist ja höchste Zeit! Wir wollen doch nicht die letzten sein!”

Sie nickte ihm freundlich zu: „Gleich bin ich so weit, mein Jung', — keine fünf Minuten mehr!”

Dann stellte sie die Blumen in eine Vase auf ihren Schreibtisch und huschte hinaus, sich schnell umzuziehen.

Und Bruno sah mit erstaunten Blicken auf die gelben Narzissen und dachte: Das sind ja Vaters Lieblingsblumen gewesen! „Osterglocken” hatte er sie genannt — und immer zum Fest hatten sie seinen Schreibtisch geschmückt, — und mit wehmütigem Kopfnicken gedachte er jener Zeit; — ach, es war doch schöner gewesen, als der Vater, der stattliche, stolze Mann noch da war! — Aber er getraute sich nicht zu klagen, um die Mutter nicht zu erzürnen.

Frau Maria in Mantel und Hut trat wieder ein.

„Siehst du, mein Bub” — sie lachte in heller Fröhlichkeit — „kaum drei Minuten hat es gedauert.”

Und dann gingen sie, Arm in Arm, zur Kirche.

Und als sie so nebeneinander rüstig ausschritten, dachte die Mutter: Wie er seinem Vater ähnlich wird. Im Gang und in der Haltung ganz wie er. Auch das Gesicht war ganz wie der Vater, nur die Augen, die treuen, blauen Augen, die hatte er von ihr. Ach, sie liebte ihren Buben, — war er jetzt doch ihr alles. Die Leute, denen sie begegneten, grüßten sie mit offenbarer Herzlichkeit, denn es gab im ganzen Städtchen wojl kaum einen Menschen, der sie nicht geschätzt und hoch geachtet hätte.

In der Kirche dann trennten sich Mutter und Sohn, sie ging unten in die Bank in ihren eingetragenen Platz, während Bruno die Stufen zum Altar hinaufschritt und sich zu den andern Konfirmanden setzte.

Und dann erklang die Orgel, die Gemeinde sang und die Feier begann.

Laut und eindringlich, mit herzergreifender Stimme sprach der würdige alte Prediger, und in stummer Andacht saß die Gemeinde und lauschte ihrem Seelsorger.

Auch Frau Maria saß ergriffen und andächtig da, bis irgendein Wort, ein Gleichnis des Geistlichen sie wie mit einem Schlage aufrüttelte — da entschwand plötzlich die ganze Gegenwart um sie herum, und wie mit zauberhafter Macht führten die Gedanken sie zurück in die Vergangenheit. — Ihr Gatte, ihr Bruno, warum, warum war er heùte, am Ehrentage seines Jungen, nicht hier?

Fast kamen ihr die Tränen, mit Gewalt mußte sie sich stark machen.

Ach, sie liebte ihn noch immer, so oft und so hart sie auch dagegen angekämpft hatte, — hier kam es ihr wieder klar und deutlich zum Bewußtsein, daß ihr Herz mit allen Fasern noch an ihm hing.

Der Gedanke trieb ihr das Blut ins Gesicht. Es war ihr, als richteten sich die Blicke all der Nachbarn auf sie: Wo ist dein Mann? Weshalb kam er nicht heute wenigstens mal her?

Sie preßte die Lippen aufeinander, sie schloß für ein paar Minuten die Augen, und sie ließ sich forttragen von den Gedanken, die jetzt unaufhaltsam sie überfielen. — — —

Ja, ja! Sie hatte ihn über alles geliebt, den stolzen, schönen Mann, auf den alle die Mädchen und Frauen so sehnsüchtig warteten! Und als er an all den andern vorbeiging und sie, die Aermste, sich erwählte, da war sie ihm in heißer Liebe entgegen gekommen und hatte mit überglücklichem Lächeln ihm ihre Hand gereicht und war sein Weib geworden. — — — O Glück! O einzig süßes Glück! — — — Wie ein Rausch, wie ein endloser Freudenrausch war es dann gewesen! Die Zeit flog nur so dahin und ihr Glück wurde immer größer. Und als ihr Bund gesegnet wurde und der Stammhalter da war, da schien die Sonne des Glücks ihren Höhepunkt erreicht zu haben, da schloß die glückliche junge Mutter bittend die Augen und flehte inbrünstig zum Himmel auf: Bleib' bei uns, Glück! Bleib' uns treu! — Und es blieb ihnen treu. — Die Jahre schwanden, der Bub wuchs heran. Und der Mann blieb ein guter Gatte und Vater. — Aber dann, ganz urplötzlich, heimtückisch und hinterlistig, dann war das Unheil gekommen. — Eine Jugendfreundin von ihm kam zurück von einer Weltreise, sie sahen sich wieder und von Stund an hingen ihre Blicke aneinander, wuchsen ihre Herzen einander entgegen. — Und da begann das Glück langsam, aber sicher zu weichen. Sie fühlte, daß sie des Mannes Liebe verlor — von Tag zu Tag fühlte sie es deutlicher —. Grauen, Entsetzen packte sie, aber machtlos mußte sie es dulden, wie die andre ihr den Mann nahm. Und dann wurde sie hart und stolz. Nein! Betteln um seine Liebe, nein, das tat sie nicht! So verschloß sie all ihren Kummer in sich, zeigte sich hart und kühl, und eines Tages, als er ernst und eindringlich bat, gab sie ihn frei. — und er freite die andre und wurde auch mit ihr glücklich. — Aber dann brach der Krieg aus, und er mußte hinaus ins Feld. Und da erst zeigte die zweite Frau ihren wirklichen Charakter. Aus den Augen, aus dem Sinn. Während der Gatte draußen im Feld für das Vaterland kämpfte und litt, feierte die lustige und verwöhnte Gattin daheim verschwiegene Feste und genoß das Leben, wo und wie es sich ihr bot. Und als der Krieg gar und gar kein Ende nehmen wollte, da ertrug es die lebenstolle Frau nicht mehr, und eines Tages war sie auf und davon. So fand der Gatte, als er aus der Gefangenschaft Sibiriens heimkam, das Haus leer. — Frau Maria atmete tief und schwer auf. — Alles, alles hatte sie gewußt. Ob sie wollte oder nicht. Man trug ihr ja alles zu. — Jetzt, jetzt konnte sie ihn wohl wieder haben. Aber nein! Sie blieb hart und stolz und hielt sich in Einsamkeit zurück!

Ein lautes Wort des Predigers schreckte sie aus ihrem Sinnen empor. Schon setzte die Orgel ein. Bald war die Feier vorbei.

Und als die Konfirmanden vom Altar herabstiegen, nahm Frau Maria ihren Buben in den Arm und küßte ihn inbrünstig.

Da, auf einmal sah Bruno hinter der Kanzel den Vater stehen. Er zuckte zusammen. Die Mutter wurde aufmerksam. Da sah auch sie ihren früheren Gatten wieder. Sie erbebte. Doch als er ernst und ehrerbietig grüßte, dankte sie ihm ebenso, dann aber schritt sie mit dem Sohn schnell davon.

Und Bruno sah die Mutter an. Sie verstand seinen fragenden, bittenden Blick, aber ernst und hart zog sie den Sohn schnell weiter, daß sie aus dem Bereich des andern kamen. Erst daheim atmete sie freier.

Noch einmal bat Bruno: „Aber Mutterchen!”

Sie aber verneinte ernst und stumm und ging in ihr Zimmer. Aber dennoch wartete sie. Den ganzen Tag über blieb ihre Hoffnung rege, daß „er” kommen würde. Wie eine Freude war es in ihr..

Doch er kam nicht, auch in den nächsten Tagen nicht.

Da sank die stille Freude in ihr wieder dahin, und die Tage wurden hart und ernst wie früher.

Am Karfreitag aber traf Bruno seinen Vater. Da nahm der stolze Mann seinen schlanken, hochgewachsenen Buben, der ganz sein Ebenbild war, in die Arme und küßte ihn herzhaft ab.

Und der Sohn bat nun glückstrahlend: „Komm' doch wieder zu uns, Vater! Mutti hat schon den Schreibtisch geschmückt mit Osterglocken!”

Der jetzt so ernst gewordenen Mann lächelte und drückte noch einmal seinen Buben an sich, dann stürmte er davon.

Daheim sagte Bruno nichts von dem Wiedersehen, er wollte der Mutter die Freude der Ueberraschung nicht nehmen.

Und später, gerade als die Osterglocken das Fest einläuteten, da fand der so schwer geprüfte Mann den Weg zu seiner ersten Frau zurück.

Ruhig begrüßte sie ihn und dankte für den Strauß, den er mitbrachte.

Dann begann er ernst, doch auch in zuversichtlicher Hoffnung zu sprechen, und er berichtete nun, daß er all die Zeit seiner zweiten Ehe nichts von jenem Glück gefunden, das er so fest erwartet hatte — ein unglückseliger Irrtum seines Herzens sei diese zweite Ehe gewesen — erst da habe er erkannt, was er preisgegeben, leichtsinnig geopfert hatte, und längst schon wäre er heimgekehrt, wenn er nicht hätte fürchten müssen, ein so stolzes, verletztes Herz hier zu finden.

Frau Maria hörte ihn ruhig an. Und an dem Klange seiner Stimme erkannte sie, daß sein Herz aus ihm sprach, und diese Erkenntnis beglückte sie tief innerlich — aber als er zu Ende gesprochen hatte, sah sie ihn nur mit stumm fragenden Augen an.

Da reichte er ihr die Hand und sagte innig und mit heißem Blick: „Hab' Vertrauen zu mir, Maria! Als ein andrer, als ein durch den Ernst des furchtbaren Kriegserlebens geläuterter Mensch, so kehre ich heim zu dir! Alles, was ehedem flott und leichtherzig an und in mir war, das ist jetzt wie abgefallen von mir, denn jetzt sehe ich, was das Leben zu vergeben hat und wo der wahre Wert des Glückes blüht, erst, wer wie wir da draußen so oft dem Tode ins Auge geblickt, erst der hat den ganzen Ernst, aber auch die ganze Schönheit des Lebens kennengelernt, erst er weiß. wie er jetzt sein Dasein sich gestalten muß!”

Und da nahm sie, Tränen in den Augen, seine Hand und sagte still und innig: „Und ich habe ja immer an dich gedacht, weil ich dich immer geliebt habe — trotz alledem!”

Er nickte ihr zu, glückselig, und zog sie an sich und küßte sie.

Und als sie aufblickten, stand ihr Sohn bei ihnen und schmiegte sich an sie — und er, er war am allerglücklichsten, denn nun ging er mit nochmal so großer Freude, mit nochmal so großem Stolz dem Leben entgegen.

Von draußen her erklangen ernst und feierlich die Osterglocken . . .

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